Freitag, 30. Juli 2010

ART // DER CARAVAGGIO

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Wie stürzt man eine Kunstepoche? Während seine Kollegen gegen Ende des 16. Jahrhunderts noch der verherrlichenden Darstellung huldigten, malte Michelangelo Merisi da Caravaggio neuartig realistisch und naturalistisch. Und wurde so zum Überwinder des Manierismus und Begründer der römischen Barockmalerei. Im Zeichen des Frühbarocks wählte auch er vorwiegend biblische Themen, verknüpfte aber mit der Darstellung einer unidealisierten Wirklichkeit und drastischen Alltäglichkeit das Sakrale mit dem Profanen. Statt harmonischer Gruppenportraits wählte er aus der darzustellenden Szene den Moment der höchsten Dramatik, nicht nur in der Enthauptung des römischen Heerführers in 'Judith und Holofernes'. Potenziert wird die Dramatik durch Caravaggios meisterhaften und einzigartigen Einsatz von schräg einfallendem Schlaglicht – die Figuren, Gesten und Bewegungen wirken ungewohnt lebendig, die theatralische Inszenierung wie die perfekte Momentaufnahme im dritten Akt. Die provozierende Nacktheit, vielleicht sogar Homoerotik (z.B. 'Amor als Sieger' mit freizügigem Ausfallschritt) und das fehlende Dekor in den Gemälden des italienischen Barockmalers riefen immer wieder Kontroversen hervor, zum Beispiel mit der Kirche, die zahlreiche seiner Darstellungen ablehnte. Auch weil Caravaggio seine üppigen Modelle für die biblischen Frauenfiguren auf der Straße fand, vermutlich stand die schöne Dirne Fillide Melandroni nicht nur für die Darstellung der 'Judith' Portrait. Ob Caravaggio einen seinem Malstil entsprechend egozentrischen Lebenswandel pflegte und ob seine Gemälde Ausdruck sexueller Freizügigkeit oder bloß gelassene Selbstverständlichkeit sind, ist spekulativ – der Mythos vom gewalttätigen und promiskuitiven Malergenie hält sich jedenfalls hartnäckig. Sicher ist, dass er mehrfach wegen körperlicher Gewalt oder Waffenbesitz angeklagt wurde. Bis zu seinem Tod 1610, kurz vor seinem 39. Geburtstag, war er praktisch immer auf der Flucht vor seinen Verurteilungen. Pünktlich zum 400. Todestag und dem in Rom ausgiebig gefeierten Caravaggio-Jahr 2010 erschien nun im Taschen Verlag der Bildband 'Caravaggio – Das vollständige Werk.' Der Autor, Kunsthistoriker Sebastian Schütze, dokumentiert das Leben und Schaffen des Malers auf seinen vielen Stationen in Mailand, Rom und Neapel, auf Malta und Sizilien, seinen Einfluss auf die Kunstwelt, die sogenannten 'Caravaggisten' und zahlreiche Künstler, darunter Rubens, Rembrandt, Vermeer und Velázquez. Thematisch geordnete Detailansichten lassen Caravaggios ausgefeilte Bildrhetorik von Blicken und Gesten nachempfinden. Der opulente Bildband zeigt alle Werke auf seidenmattem, schwerem Papier, auf über 300 Seiten. Die klar erkennbaren Farbnuancen, zum Beispiel der grünlich schimmernde, 'kleine kranke Bachus', den er wahrscheinlich während eines Krankenhausaufenthalts malte, die feinen Pinselstriche, Brüche, Risse und Poren in den Gemälden machen aus dem Blättern einen Museumsbesuch.
Sebastian Schütze: 'Caravaggio – Das vollständige Werk', www.taschen.com

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